27.04.2012 | Brigitte Jacobs van Renswou. Mit dem Hang zum Extrem

Zur Wide White Space Gallery von Anny De Decker und Bernd Lohaus. Das ZADIK - Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels - zeigte eine Sonderschau zur Wide White Space Gallery auf der ART COLOGNE 2012 anläßlich der ART COLOGNE-Preisverleihung an Anny De Decker und Bernd Lohaus.

Umhüllt von einem kollektiven rosafarbenen Seidengewand, sitzen in Zweierreihen, wie im Flugzeug, Personen nebeneinander auf dem Boden: die Performance „A Pink Silk Airplane für 100“ von James Lee Byars fand am 25.4.1969 als eine von mehreren interaktiven Aktionen in den Räumen der Galerie Wide White Space in Antwerpen statt. Leider kann das Schwarz-Weiss-Foto nicht die rosa Farbe wiedergeben, die für die ganze Aktion kennzeichnend war: der gesamte Boden des Galerieraums und eine Wand waren auf Wunsch von Byars eigens für die Ausstellung rosafarben gestrichen. Das 30 Meter lange, rosafarbene Seidentuch war in Form eines Flugzeuges ausgebreitet, die Teilnehmer der Aktion nahmen ihre „Sitze“ im Flugzeug ein, indem sie ihre Köpfe durch eines der 100 Löcher des Stoffes steckten. Die „Passagiere“ sollten alle gleichzeitig einatmen und sich vorstellen, mit dem „Airplane“ abzuheben. Nach seiner Ausstellung bei Wide White Space reiste Byars mit seinem rosafarbenen Seidentuch nach Düsseldorf. Vor der Kunstakademie traf er Joseph Beuys mit einer Gruppe Studenten. Byars breitete sein „Pink Silk Airplane“ vor den Türen der Akademie aus, und die Studenten setzten sich in die ausgeschnittenen Löcher. Im Verlauf der Aktion schnitt Byars mit einer Schere den Stoff in Stücke für ein bis zwei Personen, einige Studenten liefen mit den Stücken des seidenen Airplanes um den Körper davon. Die Stoffrelikte der Aktion waren offensichtlich begehrt, wie eine in rosafarbenem Kugelschreiber geschriebene Postkarte von James Lee Byars an „WWS etc.“ vom 21. Oktober 1969 bezeugt: „A&B. I was delighted with the new cover and the excitement of the Book and I loved you getting back a piece of the Airplane. Are other parts available? And did you have to buy it? Love and thank you J.” Ein Stück des Airplanes erhielten Anny De Decker und Bernd Lohaus von Blinky Palermo, der als Student ebenfalls unter der Plane gesessen hatte.

Anny De Decker und Bernd Lohaus hatten James Lee Byars durch Christo kennengelernt, der ihnen erzählt hatte, in New York gäbe es einen verrückten Künstler, der phantastisch in ihre Galerie passen würde. Die Kunsthistorikerin Anny De Decker und Bernd Lohaus, Schüler von Joseph Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie, hatten ihre 'Wide White Space Gallery' 1966 in Antwerpen gegründet und bis 1976 geführt. Mit Galerien wie Konrad Fischer, Heiner Friedrich, Art & Project und Yvon Lambert zählte sie zu den führenden Avantgarde-Galerien in Europa. Schon früh präsentierte sie Einzelausstellungen von heute etablierten Künstlern wie Carl Andre, Marcel Broodthaers, Daniel Buren, James Lee Byars, Christo, Richard Long, Panamarenko und Lawrence Weiner, deren Werke an viele internationale Museen vermittelt wurden. Mit der Ausstellung „Young American Artists (1969): Carl Andre, Richard Artschwager, Bill Bollinger, Walter de Maria, Dan Flavin, Sol LeWitt und Bruce Nauman" widmete sich Wide White Space der Vermittlung konzeptueller Künstler aus den USA.

ART COLOGNE-Preis an Anny De Decker und Bernd Lohaus (†) © Koelnmesse ART COLOGNE 2012 Sonderausstellung des ZADIK: WIDE WHITE SPACE anlässlich des AC-Preises an Anny De Decker und Bernd Lohaus (†) © Koelnmesse ZADIK_sediment 20_2012_Cover ZADIK_sediment Hans Mayer vor Bildern von Josef Albers, April/Mai 1965 Foto: Galerie Hans Mayer Archiv Galerie Hans Mayer, Düsseldorf

Der prospektive Name Wide White Space wurde für die Galerie zum Programm und Konzept. Viele der von Anny De Decker und Bernd Lohaus vertretenen Künstler erprobten den Galerieraum entweder als Installationsraum, die Arbeiten entstanden unter Einbeziehung des Raums (Carl Andre, Richard Long), oder die Ausstellung und die Räume selbst wurden zum Gesamtkunstwerk (Daniel Buren, Christo oder James Lee Byars). Diesen grundlegenden Wandel in den künstlerischen Produktions- und Arbeitsweisen der 1960er Jahre und die Wirkung und Transformationen des weißen Galerieraums thematisierte Brian O’Doherty in seinen 1976 in der Kunstzeitschrift Artforum publizierten Essays und Buch Inside The White Cube: The Ideology of the Gallery Space (und 1981 in seinem Essay The Gallery as Gesture). Zu den radikalsten „Gesten“ im Umgang mit dem Galerieraum zählen die Interventionen von Daniel Buren. 1968 versiegelte er mit weißen und grünen Stoffstreifen die Tür der Galleria Apollinaire in Mailand für die gesamte Ausstellungsdauer. 1969 säumten weiße und grüne Stoffstreifen die Grundmauern bis zur Eingangstür des Jugendstilgebäudes der Wide White Space Gallery. Im Inneren der Galerie setzte sich das Streifenband fort entlang der Innenwände des Galerieraums. Die erste Ausstellung von Daniel Buren löste in Antwerpen einige heftige Reaktionen aus. Einige Besucher fühlten sich angesichts der kargen Galerieräume, auf denen „nichts“ zu sehen war, provoziert. Nach der Ausstellung baten die niederländischen Sammler Mia und Martin Visser Daniel Buren, eine Installation in ihrem von Gerrit Rietveld erbauten Wohnhaus in Bergeijk zu realisieren. Für diese Gelegenheit überließen die Sammler in ihrer Abwesenheit Anny De Decker und Bernd Lohaus die Hausschlüssel. Daniel Buren suchte sich die augenfälligste und wichtigste Wand im Hause aus. Nach Fertigstellung machte sich Anny De Decker Sorgen: „Nach getaner Arbeit sah man im Hause Vissers nur noch Streifen. Der ganze Raum schien sich auf diese Streifen zu konzentrieren“. Doch Vissers waren bei ihrer Rückkehr begeistert.

Mit ihren Künstlern verbanden Anny De Decker und Bernd Lohaus sehr persönliche Kontakte: So fuhr Lawrence Weiner mit Bernd Lohaus und Daniel Buren 1969 gemeinsam nach Bern, um im Vorfeld der legendären Ausstellung von Harald Szeemann „Live in your head - When Attitudes Become Form“ Papierstreifen zu kleben; Richard Long verbrachte 1976 einige Sommertage im Landhaus im flämischen Weert; Carl Andre schenkte zur Geburt von Anny De Deckers Sohn Jonas, der ein kräftiges Baby war, eine Arbeit mit dicken Zinkplatten, zur Geburt der Tochter Stella schenkte er Platten aus Kupfer, weil Stella rothaarig war.

1976 beendeten Anny De Decker und Bernd Lohaus ihre Galerietätigkeit, 1977 fand die letzte Ausstellung mit Lawrence Weiner statt: „Above below the level of water with a probability of flooding.“ Mit ihrer konsequenten Haltung und Vermittlungsarbeit wurde Wide White Space zum Vorbild für ein Galeriemodell, das sich mehr an der Kunst orientierte, als an kommerziellen Interessen, wie Anny De Decker konstatierte: „Wir haben die Galerie immer als Abenteuer angesehen, überhaupt nicht als Handel, als geschäftliche Angelegenheit. (…) Wir haben die Extremsten ausgewählt, das war dann immer richtig.“

 

Das ZADIK - Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels zeigte eine Sonderschau zur Wide White Space Gallery auf der ART COLOGNE 2012 anläßlich der ART COLOGNE-Preisverleihung an Anny De Decker und Bernd Lohaus. (Halle 11.2 Stand-Nr. D 40)

 

 

sediment. Mitteilungen zur Geschichte des Kunsthandels / Sediment Nr. 20/2011. Konsequent, Konstruktiv, Konkret.
Hg. Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels e.V. ZADIK in Kooperation mit der SK Stiftung Kultur der Sparkasse Köln/Bonn
Autoren: Prof. Dr. Günter Herzog, Brigitte Jacobs van Renswou.
Verlag für moderne Kunst, Nürnberg, 2012. 20,00 EUR.
ISBN 978-3-86984-298-1

Buchcover: Koje der Galerie Reckermann auf dem Kölner Kunstmarkt 1973.
Foto Hennes Maier. Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels (ZADIK), Köln © ZADIK, Köln