18.12.2017 | Gurlitt und die Folgen

Aus dem 2012 beschlagnahmten „milliardenschweren Kunstschatz der Nazis“ entstand eine lange Geschichte mit dürftigem Ergebnis. Die Folgen: eine mit Vehemenz und um ein Dreivierteljahrhundert verspätet geführte Restitutionsdebatte, die Verschärfung des Kulturgutschutzes und die Etablierung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste (DZK) in Magdeburg.

Zeitgleich zur Bonner Ausstellung erschien das Buch "Der Fall Gurlitt" von Maurice Philip Rémy. Es zeichnet ein denkwürdiges Panorama der Affäre von ihrem Bekanntwerden bis zu ihrem Ergebnis - einer Handvoll als Raubkunst verifizierter Kunstwerke. Der Autor analysiert die Quellen akribisch und benennt die Akteure: von den Beamten der bayerischen Justiz bis hin zur Kulturstaatsministerin und ihrem Umfeld. Vorverurteilung, rechtswidrige Beschlagnahmungen, Indiskretionen, Aushöhlung von Persönlichkeitsrechten, massiver Druck und Deutungshoheit über die Biographie von Hildebrand Gurlitt mit lethalem Effekt auf dessen Sohn. Dies sind nur einige Stichworte zu einer Kaskade staatlicher, von moralischer Empörung begleiteter Willkürakte auf Kosten einer familiär belasteten und offenkundig soziophoben Person. Fazit des Autoren: Weil keiner der involvierten Funktionsträger bisher zur Verantwortung gezogen wurde, wird aus dem ursprünglichen Kunstskandal ein unabgeschlossener Politikskandal. Zu den Irreführungen passt übrigens auch, dass das Cover des Bonner Ausstellungskatalogs von einem Monet-Gemälde geziert wird, das eben nicht "NS-raubkunstverdächtig" ist: es wurde bereits Mitte der 20er Jahre (!) von Hildebrand Gurlitt privat erworben. Es kann auch nicht oft genug betont werden, dass Gurlitt junior lange Zeit bevor er ungewollt zu einer öffentlichen Person wurde, die Ansprüche ehemaliger Eigentümer befriedigte: Aus dem Versteigerungserlös von Beckmanns „Löwenbändiger“ erhielten die Flechtheim-Erben ein Drittel.

Der größte Kunstverkauf in der Zeit des deutschen Nationalsozialismus fand gänzlich außerhalb des Kunsthandels statt. Rund 4.400 Kunstgegenstände wurden im Jahr 1935 durch die Dresdner Bank veräußert. Die Objekte waren als Sicherheit von jüdischen und nichtjüdischen Bankkunden für Kredite hinterlegt worden, die teils im Zuge der Wirtschaftskrise nicht mehr bedient werden konnten. Der Staat Preußen erwarb die komplette „Sammlung“ für 7,5 Millionen Reichsmark und verteilte sie an Berliner Museen. Ein spektakulärer, top-geheimer Deal, über dem Jahrzehnte ein Mantel des Vergessens lag. Den hat Lynn Rother in ihrer herausragenden, kürzlich erschienen Dissertation "Kunst durch Kredit" gelüftet und durchblicken lassen, dass sie sich mehr Unterstützung durch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) bei ihren Recherchen gewünscht hätte. Bis heute befinden sich noch rund 1.600 Objekte in diversen Berliner Museen unter dem Dach der SPK. Erstaunlich, dass diese Geschichte im Vergleich zum Hype um den "Schwabinger Kunstfund" bislang von den Medien fast unbeachtet blieb.

Eine mit Vehemenz und um ein Dreivierteljahrhundert verspätet geführte Restitutionsdebatte, die Verschärfung des Kulturgutschutzes und die Etablierung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste (DZK) in Magdeburg sind unmittelbare Folgen der Affäre Gurlitt. Das DZK hatte Ende November eine hochinteressante Tagung über den Kunstraub im besetzten Frankreich in der Bonner Bundeskunsthalle veranstaltet. Das Symposium endete jedoch mit einem Affront, in dem sich ein namhafter Provenienzforscher Luft verschaffte: Das DZK habe massive strukturelle Probleme und verhindere den Erfahrungs- und Wissenstransfer. Kunsthandelsarchive, die zur Erforschung freigegeben wurden, könnten nicht bearbeitet werden, weil den Institutionen die dazu nötigen Fördermittel verweigert werden. Gemeint waren das Archiv von Julius Böhler in München oder jenes von Hauswedell & Nolte, das seit zwei Jahren in Dutzenden Kartons im ZADIK lagert.

Auch der Kunsthandel und die Sammler beklagen sich zunehmend über das DZK als Betreiberin der Datenbank Lostart. Nachfahren ehemaliger Eigentümer stellen - nicht selten über Anwälte mit einschlägigen Geschäftsmodellen - ihre Suchmeldungen zu geraubten Kunstwerken in Lostart ein. Oftmals unvollständig und in einer Weise, die keine eindeutige Zuordnung ermöglicht. Gravierender ist jedoch, dass das DZK die Berechtigung der Einträge nicht prüft, geschweige denn löscht, wenn sich herausstellt, dass ein gelistetes Kunstwerk nicht in der NS-Zeit geraubt worden ist. Ein unhaltbarer Zustand, über den jüngst das Handelsblatt detailliert berichtete. Auf welchen Friedhof gelangen die „kontaminierten“ und kaum mehr verkäuflichen Kunstwerke eigentlich? Was sagt der Kunsthändler seinem Einlieferer oder Kommittenten, der ein Kunstwerk, das er einst gutgläubig erworben hat, verkaufen will? Es ist mittlerweile ein Klima entstanden, in dem das Rechtsgut der Verjährung verblasst und bei Provenienzlücken der Verdacht unrechtmäßigen Kunstbesitzes zu schwelen beginnt.

Nur selten beziehen Kunsthändler öffentlich Stellung über ihre Erfahrungen mit Restitutionen, die in der Regel einvernehmlich und diskret stattfinden. Eine Einschätzung zum gesamten Komplex NS-Kunstraub bietet demnächst Dr. Christoph Andreas von der Frankfurter Kunsthandlung J.P. Schneider. Am 18. Januar 2018 wird er im Rahmen der Ringvorlesung "Kunstmarkt hier und heute" im Kunsthistorischen Institut der Kölner Universität einen Vortrag halten, in dem unter anderem die Rückgabe von Hans Thoma-Werken zur Sprache kommt, an der er maßgeblich beteiligt war.

Interessenten beachten zu diesem Thema die BVDG-Hilfestellung zur Provenienzforschung.

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