04.04.2022 | Das Auge des Kunsthändlers. Trüffel auf dem Bildschirm
Mellors & Kirk ist ein typisches englisches Auktionshaus in Nottingham. Dort werden in zahlreichen Sales Preziosen aller Art versteigert, von Asian Art über British Ceramics und Furniture bis Vintage Toys. Die Mitarbeiter ahnten im Frühjahr 2021 sicher nicht, welche Aufregung sie zunächst in München und dann in Berlin auslösen würden, als sie neben anderen Dingen eine Aquarellzeichnung mit städtischer Ansicht aus einem Erbe zur Auktion annahmen.
Mit der vorbildlichen Katalogisierung der Zeichnung für die Auktion und der Veröffentlichung des Kataloges beginnt jedenfalls im Spätsommer 2021 das Finale einer mehr als einhundertjährigen Geschichte.
In der Auktion "Antiques & Collectors Sale - 1614 Lots" Anfang September 2021 werden nach hunderten Stücken Schmuck, kostbaren Silberwaren, Münzen, antiquarischen Büchern, historischen Medizin-Objekten und feinem Porzellan auch Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen und Objekte vom 17. bis 20. Jahrhundert angeboten.
Dr. Alexander Kunkel aus München, Kunsthändler und exzellenter Spezialist für Werke deutschsprachiger Künstler zwischen 1800 und 1930, entdeckt in eben jenem Online-Katalog – drei Tage vor dem Auktionstermin – ein bemerkenswertes Aquarell signiert mit "E. Gaertner" und taxiert auf 400-600 Pfund. Die Qualität der Zeichnung, die prominente Ansicht des Leipziger Platzes in Berlin und die Signatur lassen ihn im ersten Moment annehmen, es handele sich wohl eher um eine Farblithographie, also um eine Reproduktion eines Gaertner-Aquarells, als um ein Original.
Schnell überkommt ihn jedoch eine Gänsehaut: eine handschriftliche Notiz auf der Vorderseite "CHANCELLERY BERLIN" und das Datum "3.8.45" sind zu entziffern und die abgebildete Rückseite des Werks zeigt einen historischen Stempel der Nationalgalerie Berlin.
Das könnte ein originales Aquarell von Eduard Gaertner sein! Ein Aquarell vom hervorragendsten Stadtansichten-Maler des bürgerlichen Berlins der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seiner von Schinkel und Stüler geprägten Architektur und dem pulsierenden Leben im Herzen der Stadt. Derart qualitätvolle Werke von Eduard Gaertner tauchen eigentlich nie im Handel auf und man würde einen Preis dafür wohl im unteren sechsstelligen Bereich ansetzen.
Alexander Kunkel wird augenblicklich klar, dass sofortiges Handeln gefragt ist. Das Werk müsste angehalten, eine Rückziehung aus der Auktion müsste erreicht werden, um seine direkte Rückkehr nach Berlin zu ermöglichen.
Er schreibt umgehend dem Direktor der Alten Nationalgalerie Berlin – erhält jedoch keine Antwort. Dann wendet er sich mit hoher Dringlichkeit an eine ehemalige Kommilitonin, jetzt Kuratorin für die Kunst des 19. Jahrhunderts im Kupferstichkabinett Berlin. Auch von ihr hört er nichts.
Das Auktionsdatum vergeht, die Zeichnung taucht in der Ergebnisliste nicht mehr auf.
Ein halbes Jahr später, am 24.03.2022, veröffentlicht die Stiftung preußischer Kulturbesitz dann unerwartet eine wunderbare Pressemitteilung "Verloren geglaubtes Werk von Eduard Gaertner zurück im Kupferstichkabinett"!
Dort ist zu erfahren, dass "„Der Leipzigerplatz in Berlin“ (Ident.-Nr. SZ E.Gaertner 2) … am 17. Januar 1891 vom Geh. Kommissionsrath F. C. Glaser der „Sammlung der Zeichnungen“ an der Nationalgalerie geschenkt worden [war]." Und weiter: "Als hochgeschätztes Werk wurde das Blatt ab 1933 als Leihgabe in Hitlers Reichskanzlei gezeigt, kehrte jedoch nach dem Krieg nicht zurück. Seit 1945 galt es als Kriegsverlust."
Die Aquarellzeichnung von Gaertner hat den Krieg in Berlin jedoch überstanden. Zu gern wüsste man, wer sie unter welchen Umständen aus der Reichskanzlei getragen hat, vom die handschriftliche Notiz stammt und welche Wege die Zeichnung dann nahm. Sie wurde jedenfalls seitdem behutsam aufbewahrt, zuletzt in einem englischen Privathaus – vergessen war ihre Bedeutung und Provenienz. Auf Vermittlung des Auktionshausinhabers Nigel Kirk hat sich der Besitzer zu einer Schenkung nach Berlin entschieden.
Nun ist sie zurückgekehrt und wir alle können sie sehen. Im letzten Absatz der Pressemitteilung wird auch Alexander Kunkel erwähnt, der die hilfreiche Information überhaupt erst lieferte.
Der Kunsthandel kann zahlreiche solcher Geschichten erzählen – nur von wenigen kann man in Presseveröffentlichungen lesen. Nicht pures Glück oder der wunderbare Zufall, sondern die aufwändige und kontinuierliche Recherche, die kunsthistorische Expertise, ein geübtes Auge sowie die Kenntnis der Akteure und Abläufe im Kunstmarkt sind Voraussetzungen für Entdeckungen und das Wiederauffinden von Kunstwerken. Mit einer gelungenen Rückkehr an ehemalige Besitzer oder in renommierte öffentliche Institutionen finden solche Auffindungen ihre schönste Vollendung. Und dies ist so eine gute Geschichte.
Wir danken der Stiftung Preußischer Kulturbesitz für die Zurverfügungstellung der Abbildung und Dr. Alexander Kunkel von Kunkel Fine Art, München, für das Teilen der Geschichte mit uns.
S.a. Blogbeitrag der Staatlichen Museen zu Berlin "Der Gärtner von Nottingham" vom 23.03.2022, mit guter Abbildung des Aquarells.
BVDG, Berlin, April 2022, Silvia Zörner