22.06.2010 | Klaus Gerrit Friese. Im Kunstfonds
Der Versuch, die Stunden zu zählen, endet in Nachdenklichkeit. Es ist eine Haltung der Askese, die dem Jurymitglied abverlangt wird und sie ist zumutbar. Askese, dem Wortsinn nach gerichtet auf die Gewinnung von Form und Strenge, wird zu einer Praxis des leibhaftigen Entschwindens in eine Behausung für Viele für viele Tage. Dies vollzieht sich nicht zugunsten des Ungeformten, über das der kultivierte Asket naserümpfend sich erhebt, sondern zugunsten einer mit großem Aufwand zu erreichenden einverständigen Formulierbarkeit. Sie ist in der Jury zu den Werken der Kunst die Regel des Umgangs und unterscheidet sich dadurch deutlich von unserer sonstigen Praxis. Wir müssen in unserem alltäglichen Umgang mit Kunst nicht jedes Mal begründen, sprechen. Wir können uns mit Recht auf unsere sprachlos bleibende Subjektivität verlassen. Und als Formel des Respekts vor der Kunst sollte evident sein: wird das Einzelne fixiert, so nur als Durchgang, als ein Tor zum Nicht-Fixierbaren. Wandert das Auge weiter, so ist auch das Weiterwandern eine Übung im Nichthaftenbleiben. Der Rausch der Vertiefung und der Rausch des Darüberfliegens, Konzentration und Ermüdung dienen dem gleichen Ziel. Aber was vom Kunstwerk gilt – sein eigentlich unbedingter Anspruch – kann in dem Urteil über es nur in Vorläufigkeit gedacht werden. Man kann dieses Verhalten nicht in der einen gültigen Formel fassen – der Anspruch selber verfliegt bisweilen -: Form und Ungeformtes, Reden und Schweigen, Verändern und Hinnehmen, Sinnvolles und Sinnwidriges gehören dazu, sofern sie Ausdruck von Konflikten sind oder auch nur der Möglichkeit sind, solche zu formulieren, dazu. Für alle ist es ein Formenchaos, in das jeder sich verstrickt, und doch ist es auf Dauer nur ein Übergang. Das Reden in einer Jury, wie wir von allen Mitgliedern lernen können, hat die Verständigung zwischen widerstreitenden Instanzen zum Ziel. Sie hat der Anwalt der Stoffe zu sein, die sie zum Reden bringt in einem Prozess. Das Reden über jeden einzelnen Künstler, sofern es die einzelnen Stoffe ernst nimmt, kann den emotionalen und den urteilenden Aspekt voneinander nicht trennen, es muss die Entscheidung treffen.
Die Weberstrasse 61 ist in diesen fünf Tagen eine in allen Gängen mit von Hängeregistraturen in Aktenwägen durchtränkte Höhle. Manchmal möchte man vor der schieren Größe der Aufgabe verzweifeln: über 1400 Anträge kommen Jahr für Jahr ein, selbst nach dem, dem Wunsch nach besserer Beherrschbarkeit nachgebendem modifizierten, nur alle zwei Jahre möglichen Bewerbungsverfahren. Jeder auf die Zeit bestellte Juror weiß, dass mehr als 95% der Bewerbungen abschlägig beschieden werden müssen. Es steht eine ungewöhnlich hohe Summe zur Verfügung, die Zahl der gewährten Stipendien und Projekte ist ebenso ungewöhnlich groß: es ist dennoch für niemanden einfach, die notwendige Reduktion von Künstlern in den verschiedenen Abstimmungsprozessen als selbstverständlich zu nehmen. Erstaunlich ist, dass, obwohl jedes Jurymitglied Teil dieses Prozesses ist, es in der Jury selbst zu Bewertungen kommt: so suggeriert die regelhaft vorkommende Benennung von so genannten zu harten Juroren die Möglichkeit von Nachgiebigkeit oder größerer Gerechtigkeit – kurz: als gäbe es ein Entkommen vor der großen ‚Schwierigkeit, nein zu sagen’.
In den ersten Jahren verbindet sich das alles mit regelrechten Schlafstörungen. Man wird nach zum Teil sehr langen Tagen der Flut der Eindrücke nicht mehr Herr. Eine ungeheure Verdichtung des durchgesehenen Materials vollzieht sich; die Gespräche in der Zweiergruppe, auf dem Flur, während des gemeinsamen Essens in den Juryräumen, beim Rauchen in der immergleichen Kälte, im Brauereiding neben dem einzigartigen Hotel Stern bis in die Nacht bleiben im Hirn. Und der Zweifel gehört selbstverständlich dazu: was alles hat der Kollege denn im Kopf behalten, worüber er so eindrucksvoll reden kann, was ich leider zur Gänze vergessen habe. Das muss ich mir morgen in der Früh noch einmal anschauen, und so geht es jeden Tag, bis in die allgemeinen Diskussionsrunden hinein. Jeder hat seinen eigenen Stil; manche vergraben sich bis zur Selbstverleugnung in die Kunst-Bilder, die beigegebenen Texte, die Projektbeschreibungen, manche sind schnell in Auffassung und Weitergabe und doch findet sich ein gemeinsamer, das Ganze tragender Rhythmus: bis zur den Schluss bildenden Vergabe des Grieshaber-Preises erleben wir in den Jahren die sich zur Stundengleichheit findende Länge der Jurysitzungen.
Es gibt während der Sitzungen, stärker und begründeter aber in den Jahren danach die Momente des Einverstandenseins mit den getroffenen Entscheidungen. Künstler realisieren größere Ausstellungen, die Reihe von Stipendien setzt sich fort, ohne dass dies der selbstreferentielle Ausdruck des Kunstsystems selbst ist. Die Kunst, deren Anspruch und Gültigkeit sich in der Regel in den Jahren nach dem Studium entwickelt, bedarf einer Förderung genau in diesen Jahren. Natürlich gibt es keine vom Kunstfonds erstellte Gesetzmäßigkeit für das Vergabealter. Aber oftmals wirkt das Stipendium in dem Zwischenbereich von Akademie und der Erprobung im Markt am besten. Und was sehen wir dann: Die Arbeiten haben sich verändert, bestätigen darin das, was wir in der Entscheidung gesehen haben; in den oft zufälligen sich ereignenden Gesprächen von Jurymitgliedern bei anderen Gelegenheiten erscheint uns das auf einmal als das von ‚uns’ Geförderte. Und oft ist es exakt der richtige Moment, in dem ein Stipendium die Dauer ermöglicht, das Durchhalten bestärkt, in dem das erfolgreiche Überleben im Markt, der für Viele lange Zeiten der Latenz kennt, herbeigeführt wird. Dies ist die ungeheure Berechtigung des Instruments der Künstlerförderung, das im System des Kunstfonds eine wesentliche Basis hat. Die Erstellung einer Biographie gehört zum selbstverständlichen Teil des Wirkungssystems von Kunst: und niemand kann sich frei davon sprechen, beim Betrachten von Katalogen den mit Ausstellungen und Auszeichnungen bestückten Lebenslauf zu einem Kriterium der Auswahl zu machen. Der Kunstfonds entfaltet mit seiner Vergabe von Stipendien eine nachweisbare subkutane Wirkung im Ausstellungswesen.
Wir haben gelernt, dass die Förderung der Kunst aus staatlichen Quellen – die unverzichtbar ist und die im strengen Sinn kein Zuviel kennt – in der Regel die Förderung von Künstlern ist. Die Jury selbst ist in der großen Mehrheit aus Künstlern gebildet, neben Vertretern der Kunstvereine gibt es zwei Galeristen, die dabei sind. Manchmal schimmert ein alter, mir nie einleuchtender Gegensatz herauf, wenn auf den eingereichten Unterlagen deutlich der Name der den Künstler vertretenden Galerie erscheint und fast folgerichtig die Position der Galerie ins Zentrum der Überlegungen rückt. Das ist nicht falsch, wenn es auch oft mit den falschen Konsequenzen verbunden ist. Der Blick des Markts, der wie selbstverständlich mit der Position des Galeristen verbunden wird, kann von dem Entstehen von Kunst, dem wir im Moment der Jury mit Nutzen und Staunen und wunderbaren Lernen beiwohnen, nicht mit Recht getrennt werden. Die Großartigkeit der Kunstfonds-Programme hat ihren Widerpart in der die Kunst zur Anschauung bringenden Figur des Galeristen - und ich ignoriere hier für einen Moment, obwohl es naturgemäß unmöglich ist, die bedeutende Rolle der Museen, Kunsthallen und Kunstvereine – dessen Leistung immer das gestaltete und geformte Künstlerprojekt ist, über dessen Förderung auch im Zusammenhang von Galerien aus meiner Sicht neu nachzudenken ist.